Introversion im Designalltag

Können Designer*innen introvertiert sein?

Design wird oft als laut verstanden. Es vermittelt Botschaften, es spricht zu den Menschen, es macht aufmerksam. Doch Design wirkt gleichzeitig im Hintergrund. Gutes UX-Design ist unsichtbar. Und so verhält es sich auch mit den Menschen, die Design herstellen. Es gibt das ganze Spektrum von sehr lauten extrovertierten Menschen bis hin zu stilleren Introvertierten.

Die Teilnehmenden der Session "Introversion im Design-Alltag" sitzen im Kreis zusammen.

Introvertierte haben gemeinsam, dass sie sich nicht nur über Worte ausdrücken, dass sie länger nachdenken, bevor sie etwas sagen und dass sie Problemstellungen mit nach Hause nehmen und dafür am nächsten Tag mit einer brillanten Idee wiederkommen. Mit diesen Eigenschaften haben sie jedoch oft das Gefühl, nicht genug zu sein in einer lauten Welt.

In meinem Workshop haben wir uns deshalb wortlosen, bildstarken Ausdrücken in Form von Zines gewidmet, um uns über das Phänomen “Introversion” auszutauschen und herauszufinden, welche Stärken Introversion mit sich bringt. Zines sind kleine, gestaltete Magazine, die aus einem DIN A3 Papier gefaltet werden können.

1. Ich als Designer*in

Wie bin ich eigentlich? Was brauche ich, um gut zu arbeiten? Was stresst mich im Arbeitsalltag?

Die meisten waren sich einig, dass sie ab und zu Ruhe brauchen, um nachzudenken. Dass sie gerne erst zuhören und dann einige Zeit in sich gehen, um Dinge gedanklich hin und her zu wälzen. Dass sie aber auch gerne mit Menschen zusammen sind. Denn der Unterschied zwischen Introvertierten und Extrovertierten ist hauptsächlich der, dass Intros Ruhe brauchen, um ihren Akku wieder aufzuladen und Extrovertierte ihren Akku in Gesellschaft aufladen.

So hat zum Beispiel eine extrovertierte Teilnehmerin die erste Seite ihres Zines mit vielen Punkten gestaltet und erklärt, dass das der Trubel ist, den sie um sich herum braucht, um in den Flow zu kommen. Ihr Nachbar hat geantwortet, dass es sich bei ihm genau gegenteilig verhält und damit viel Nicken geerntet.

Diese Unterschiede zu beachten ist spannend und kann vielen Missverständnissen im Introversion im Designalltag 1Arbeitsalltag vorbeugen. Im zweiten Punkt ging es nämlich um sich in Beziehung zum eigenen Umfeld.

2. Ich in meinem Umfeld

Wie sind meine Kolleg*innen, Chefs, Kund*innen? Wie erlebe ich typische Meetings oder Feedback-Situationen? Wo fühle ich mich gesehen? Welche sozialen Rollen nehme ich (unfreiwillig) ein? Wo gibt es vielleicht Widersprüche?

Zum Beispiel werde ich oft als besonders gewissenhaft eingeschätzt, weil das Vorurteile sind, die mit meinem ruhigen Wesen einher gehen. Dabei bin ich manchmal sehr vergesslich und überfordert mit meiner Organisation. Mir fällt auch auf, dass mein Umfeld meistens lauter ist als ich. Wenn dann ein Team zum Beispiel aus ruhigen Menschen besteht und ich selbst in die Rolle gerate das Wort zu führen, ist das für mich ungewohnt. Eine ähnliche Erfahrung hat bei einer Teilnehmerin dazu geführt, dass sie im Feedbackgespräch widersprüchliche Rollenbeschreibungen zu ihrer Person bekommen hat, je nachdem in welcher Gruppe sie gearbeitet hat. Ich habe dafür plädiert, dass wir nicht in einer Schublade stecken und uns dementsprechend verhalten müssen. Unsere Persönlichkeit ist ein Spektrum und an manchen Tagen sind wir vielleicht lauter und anderen ruhiger. Auch je nach Umfeld kann das variieren.

Es geht auch darum, sich mit seinen Bedürfnissen ernst zu nehmen. Und darin, Introversion nicht nur als Mangel von etwas wahrzunehmen. Viele in der Gruppe haben berichtet, dass sie sich oft anstrengen, lauter zu sein oder gesprächiger, damit sie besser wahrgenommen werden. Auch ich habe jahrelang gedacht, dass ich extrovertierter werden kann, wenn ich mich nur genug anstrenge. Wenn ich genug XP sammle, kann ich ins nächste Level kommen und endlich in der vermeintlich anerkannten Liga der Gesellschaft mitspielen. Dass das nicht funktioniert und dass Introversion ein Persönlichkeitsmerkmal ist, das man nicht ablegen kann, war für mich befreiend zu erkennen.

Es gibt sogar neurobiologische Vorgänge im Gehirn, die unser Erleben validieren. Zum Beispiel nehmen Introvertierte eintreffende Reize stärker wahr und schütten als Reaktion früher und mehr Dopamin aus, als Extrovertierte. Dadurch, dass sie aber auch eine geringere Toleranz für Dopamin haben als Extrovertierte, ist ihr Nervensystem nach einem langen Tag voller Meetings und sozialen Interaktionen tatsächlich ermüdet.

Durch diese Erkenntnisse habe ich aufgehört, mich für mein Verhalten zu rechtfertigen oder so streng mit mir zu sein. Wenn man etwas nicht ändern kann, kann man anfangen, es zu akzeptieren und selbstbewusst damit durchs Leben zu gehen. Denn Introversion hat viele Stärken, die genauso wertvoll sind, wie extrovertierte Charakterzüge.

3. Stärken von Introversion

Was ist meine (leise) Superpower? Welche Skills bringen Introvertierte mit ins Team? Wie kann ich gut kommunizieren, ohne mich zu überfordern? Wie schaffe ich Raum für mich und andere?

Ich glaube, es ist sehr wichtig, sich klar zu machen, dass wir als Introvertierte viele wertvolle Eigenschaften mit ins Team bringen und dass ein gutes Team aus verschiedenen Persönlichkeiten und Skills besteht. Wir Introvertierten sind gute Zuhörer*innen. Wir können uns zum Beispiel gute Konzepte ausdenken, weil wir schon alle Pro und Contra Argumente zu Ende gedacht haben, bevor wir ein Ergebnis präsentieren.

Wir sind ruhig. Und auch wenn wir das oft gerne verändern würden, bekomme ich oft die Rückmeldung, dass andere gerne meine Ruhe hätten und meine Fähigkeit, zufrieden mit meiner eigenen Gesellschaft zu sein.

Wir sind feinfühlig. Wir sind risikobewusst. Wir sind neugierig und gute Beobachter*innen.

All diese Dinge sollten gesehen werden und zwar als Stärke, die wir beizutragen haben im Arbeitsalltag und mit denen wir gemeinsam mit unseren Teams tolle Projekte umsetzen können.

Am Ende des Workshops hatten wir alle ein eigenes Zine, das uns daran erinnert, dass unsere Sprache nicht laut sein muss, sondern auch im Leisen Aussagekraft hat und dass wir unseren Platz in unserem Umfeld schon längst gefunden haben und gut sind, wie wir sind.

Die Teilnehmenden der Session "Introversion im Alltag" halten ihre fertigen Zines in die Kamera.

Fazit

Eine Teilnehmerin hat nachher zu mir gesagt, der Workshop war wie ein “ruhiger Hafen” mitten im Barcamp und das war vielleicht das schönste Kompliment.

Wer mehr über das Thema erfahren möchte, kann in meinem Buch lesen: Sag doch mal was!

Cover des Buches "Sag doch mal was – die leise Superpower der Introvertierten"
Bild von Carina Thomas

Carina Thomas

Illustratorin und Kommunikationsdesignerin


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